Erinnerung - Ein Wunder der Schöpfung
Die Rede ist beendet. Die Menschen applaudieren. Zufrieden gehe ich von der Bühne, hinein in den Saal, und dann passiert es: Mit dem erkennbaren Wunsch, ein Gespräch zu führen, kommt jemand auf mich zu. Mir ist klar, dass ich ihn kenne. Aber der Name fällt mir partout nicht ein. Irgendetwas mit R, gleich habe ich es. Zu spät – er steht vor mir und begrüßt mich freundlich mit: „Hallo Bodo, erinnerst du dich?“ Kennen Sie das? Der Name liegt einem auf der Zunge, und doch kommt er nicht in den Sinn. Eine Alltagserfahrung, ähnlich quälend wie Nasenkribbeln ohne Niesen. Ein Phänomen, das Wissenschaftler tip-of-the-tongue state (TOT) nennen: das Zungenspitzenphänomen.
Zwischen 20.000 und 60.000 Wörter sind im „mentalen Lexikon“ eines normalen Sprechers gespeichert und nahezu immer gelingt es, daraus die aktuell benötigten Namen und Begriffe herauszulösen.Was für eine großartige Leistung des menschlichen Gehirns! 100 Milliarden Nervenzellen, jede einzelne durch bis zu 10.000 Verbindungen mit ihrer Nachbarzelle verbunden, die die Aufnahme von Sinnesreizen steuern, Informationen weiterleiten und untereinander durch chemische Botenstoffe und elektrische Impulse interagieren. Ein Wunder der Schöpfung!
Der Versuch, diese Komplexität durch moderne Supercomputer auch nur annähernd abzubilden, ist bisher gescheitert. Etwa ein Prozent der Kapazität eines menschlichen Gehirns lässt sich bislang in neuronalen Netzwerken realisieren. Heute scheint erwiesen, dass Erinnerungen sich nicht nur durch häufiges Wiederholen festsetzen, sondern auch durch die Verbindung von starken Emotionen mit dem Erlebten. Einmalige Ereignisse, wie die Geburt eines Kindes, der Tod eines lieben Menschen oder auch die Situation, in der man sich gerade befand, als einen die Nachricht vom 11. September erreichte, werden in den „Klub der starken Erinnerungen“ aufgenommen, weil ein chemischer Türsteher namens Alpha-PKC dies zulässt.
Weil es die Grenzen des Fassbaren für die allermeisten von uns überschreitet, ist die ungeheure Leistung, die da alltäglich in unserem Kopf erbracht wird, für uns zu einer Selbst-verständlichkeit, zu einem Werkzeug geworden. Vielleicht aber macht sich der ein oder andere ab und zu bewusst, welch grandioses Wunder der Schöpfung jedem von uns mit dem Vorgang des Erinnerns in die Wiege gelegt wurde.
Übrigens: An den Namen mit R, der mir auf der Zunge lag, habe ich mich noch rechtzeitig vor meiner Entgegnung erinnern können.
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