Wie riecht Erinnerung?
Wenn wir uns erinnern, denken wir an Gelebtes, an Situationen, an Gespräche, an Sequenzen unseres Lebens. Ob wir in unserer Erinnerung die von uns gelebte Realität finden, das bleibt ungewiss. Immer, in jedem Lebensalter, ob dement oder geistig sehr rege und fit: Erinnerung ist und bleibt subjektiv. Wir beschreiben Situationen sehr persönlich. Ein gänzlich objektives Erleben, von unterschiedlichen Menschen gleichzeitig wahrgenommen, gibt es nicht. Wir sehen immer unsere ganz eigene Welt, ob in der Gegenwart oder der Erinnerung. Oft verklärt Erinnerung Gelebtes. Situationen, insbesondere unschöne, verdrängen wir gerne. Das tue ich genauso wie viele andere Menschen auch. Das gibt manchmal Schutz, auch wenn es Schwerwiegendes nicht heilt.
Was ich jedoch nicht verdrängen kann, das ist eine ganz besondere Ebene der Erinnerung. Meine Erinnerungsleitplanken sind Gerüche. Plötzlich wecken sie in mir Bilder, und längst vergessen Geglaubtes ist wieder gegenwärtig. Manchmal ganz klar, manchmal aber auch diffus. Ein Geruch, ein Duft löst eine emotionale Lawine aus, nicht rational greifbar und doch enorm präsent. Es sind Gerüche, mit denen ich Erlebtes verbinde, das vielleicht schon weit mehr als 30 Jahre zurückliegt, längst vergessen oder nicht bewusst abrufbar. Meine Nase ist meine Navigation durch mein Leben. Gerüche strukturieren mein Bewusstsein. Wie riecht Erinnerung? In meiner Kindheit nach frisch gepressten Strohballen, nach staubigen heißen Sommern, nach Schweinestall und dampfenden Kartoffeln. Später nach meinen Töchtern, als sie klein waren, nach Grießbrei und Lebertransalbe. Heute nehme ich wieder die Witterung auf. Ich suche die Düfte meiner Kindheit, das Leben auf dem Land, frisch gemähte Wiesen, den Geruch der Jahreszeiten. Riechen heißt für mich leben, ob jung oder alt. Wie riecht das Leben bei Demenz? Diese Frage stelle ich mir. Diese Frage beunruhigt mich. Ich hoffe, dass diese im wahrsten Sinne des Wortes „sinnlichen“ Erinnerungen bleiben. Wenigstens als warmes und sicheres Gefühl.
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