Portrait Ingbert Liebing

Ich erinnere mich gern. Ich ärgere mich über die Dinge, die ich vergesse. Auch das kommt vor. Meine Erinnerungen sind ein Teil meiner selbst. Was bleibt von mir, wenn nicht einmal ich selbst mich an meine eigene Geschichte, an meine eigenen Erlebnisse, an meine Vergangenheit erinnere? Sich nicht mehr an sich selbst und seine Geschichte erinnern zu können, muss eine bittere Erfahrung sein. Ich weiß nicht, was wirklich in den Menschen vorgeht, die eine solche Entwicklung durchmachen müssen. Ich glaube, niemand kann sich dies wirklich ausmalen.


Erinnerungen können auftauchen, indem man aktiv versucht, sich zu erinnern. Ich freue mich darüber, dass mir dies - zumindest oftmals - gelingt. Viel schöner sind jedoch die Erinnerungen, die ganz spontan, unerwartet und unbewusst auftauchen- durch einen Geruch, ein Geräusch, Szenen, die mir bekannt vorkommen. Dann geht es ganz schnell, und vor meinen Augen spielt sich ein Film ab, und auch die Gefühle, die ich in dem erinnerten Moment verspürte, sind wieder da. Langfristig in Erinnerung bleibt mir, was mich emotional berührt hat. Das können positive, aber genauso auch negative persönliche Erfahrungen sein, die mich in irgendeiner Art und Weise geprägt haben, aus denen ich etwas gelernt habe oder die mich völlig überrascht haben.


Die Erfahrung, dass ein Mensch sich nicht mehr erinnern kann, ist daher nicht nur für ihn selbst, sondern auch für seine Angehörigen sehr bitter. Mitzuerleben, dass der Partner sich nicht mehr an die gemeinsame Vergangenheit und das Erlebte erinnern kann oder dass Eltern ihre Kinder irgendwann nicht mehr wiedererkennen, muss unglaublich schmerzhaft und schwer zu verkraften sein, hatte man sich doch zuvor immer wieder an diese oder jene Geschichte gemeinsam erinnert und darüber gelacht. So freue ich mich, im Kreis von Freunden oder in der Familie Erinnerungen austauschen zu können: Vom Erlebten erzählen, andere daran teilhaben lassen und sich selbst in diese Zeit  zurückversetzen. So kommt das eigene Leben früherer Jahre und Jahrzehnte wieder hervor – und das sind im Regelfall gute Stunden.


Zum Glück ist das menschliche Gedächtnis so gestaltet, dass unangenehme Dinge verdrängt werden und das Schöne mehr Raum bekommt, in Erinnerung bleibt. Kindheitserinnerungen werden manchmal glorifiziert, wir sprechen von der „guten alten Zeit“, obwohl es sicherlich auch in der Kindheit Probleme, Trauer, Schmerz und unangenehme Erfahrungen gegeben hat. Und ob die „gute alte Zeit“ immer besser war, darüber lässt sich trefflich streiten. Schließlich haben wir allen Grund, heute dankbar zu sein, wenn wir in Frieden und Wohlstand leben können. Aber diese Ausrichtung des Gedächtnisses auf gute und schöne Erinnerungen empfinde ich als Segen, ist sie doch ein Schutz der Natur davor, dass wir alle Belastungen früherer Jahrzehnte nicht ohne Not mit uns schleppen.


Und deshalb ist meine Feststellung: Ich erinnere mich gern.


Ingbert Liebing

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