Der Mensch lebt und fühlt dreidimensional: in der Gegenwart, in der Zukunft und in der Vergangenheit. Verliert er eine dieser drei Dimensionen, ist er kein ganzer Mensch mehr. Dasselbe gilt für Gesellschaften. Nun meinen manche, es wäre besser für unser Zusammenleben, wenn wir das Gewesene vergessen – frei nach dem Satz aus Goethes Faust: „Lass das Vergangene vergangen sein!“ Doch unsere alltägliche Erfahrung widerspricht diesem Appell. Traditionen, Bindungen und Erinnerungen gehören zu einer lebendigen Gesellschaft genauso dazu wie der Blick aufs Jetzt und in die Zukunft. Die Erinnerung kann optimistisch sein oder trauernd.
Wenn wir Deutsche an unsere Geschichte denken, dürfen wir uns selbstverständlich voller Freude an den Fall der Mauer erinnern. Aber wir haben auch die moralische Pflicht, die Erinnerung an die Massenmorde des Holocaust nicht verblassen zu lassen. Wie wir uns erinnern und wo wir unsere moralische Verantwortung sehen, bleibt Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Diese lassen sich genauso wenig stilllegen wie die Vergangenheit selbst. Sie ragt für immer in die Gegenwart hinein und lässt sich niemals loswerden. Deshalb sind alle Forderungen nach einem „Schlussstrich“ wenn es um die Erinnerung an den Holocaust geht, unangemessen. Ganz im Gegenteil: Die Vergangenheit muss immer wieder aufs Neue aufgearbeitet und vermittelt werden.
Dies gilt insbesondere angesichts der globalen Migrationsbewegungen. In jedem deutschen Klassenzimmer treffen täglich unterschiedliche Geschichten und Erinnerungen aufeinander. Und die Erinnerungsvielfalt in der Einwanderungsgesellschaft erfordert neue Formen der Erinnerung. Welche Geschichten bringen die MigrantInnen mit und wie können sie Teil eines gemeinsamen deutschen Erinnerungsnarrativs werden? Welche neuen Formen der Vermittlung sind hier notwendig? Wenn wir so nach der Vergangenheit fragen, fragen wir nach unserer gemeinsamen Zukunft. |