Irgendwann kommt der Tag. Dann überwiegen die Erinnerungen den Momenten, sie zu schaffen. Irgendwann.
In einer Zeit der starken Gegenwartsorientierung wohnt der Rückbesinnung auf Vergangenes, dem Rückspiegel des Lebens, etwas Anachronistisches inne. Dabei sind es die Erinnerungen, die uns zu dem Menschen machen, der wir sind. Die Erfahrungen, die schönen Momente und die schwierigen Situationen eines Lebens formen einen Menschen und schärfen sein Urteilsvermögen.
Es heißt, Erinnerungen seien die Wächter des Gehirns. Doch ist man ein Leben lang Herr seiner Sinne? Was passiert, wenn die Erinnerungen von einem auf den anderen Moment ausgelöscht sind oder sie langsam verschwinden? Die Frage rückt eine zentrale menschliche Angst in den Mittelpunkt. Was passiert, wenn man sich nicht mehr an Namen, an Tage oder Ereignisse - an einen lieben Menschen erinnern kann? Ein Schleier des permanent Neuen legt sich auf das gestern noch Selbstverständliche. Dann verlässt die eigene Sicht auf die Stationen des Lebens die persönliche Einflusssphäre. Andere bestimmen, interpretieren, erinnern sich. Sie schätzen und werten ein Leben. Mit dieser Sorge leben gerade ältere Menschen. Wenn die zweite Halbzeit des Lebens sich auf die Nachspielzeit zubewegt, beginnen viele Menschen, über die entscheidenden Momente ihres Lebens zu reden. Sie wollen in ihrem Umfeld ein kollektives Verständnis für die ihnen wichtigen Ereignisse schaffen. Die Kinder und Enkel sollen wissen, was im familiären Gedächtnis aufzuheben ist und was man wegwerfen kann, wenn man nicht mehr da ist. Es scheint zutiefst menschlich, nach dem Grundsatz zu leben: Wer sich erinnern kann, vergisst nicht - und wird nicht vergessen. In dieser Sicht begegnen sich Vergangenheit und Zukunft.
Die Eigenschaft des Festhaltens von Impressionen, von Lebensmomenten und der Schönheit des Augenblicks gewinnt gerade in Zeiten an Bedeutung, in denen die Welt unberechenbarer geworden ist und Lebensrhythmus, Kommunikation und Entscheidungen sich beschleunigen. Wer weiß heute noch, was er vorgestern getan hat? Im gefühlten Verlust der Autorität über die eigene Zeit scheint unserer Gesellschaft das Gefühl für das Erinnerbare zu entgleiten.
Umso wichtiger wird die menschliche Nähe, die Kranke im persönlichen Gespräch in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen durch Ärzte und Pfleger erfahren. Aus familiären Bezügen weiß ich, dass die persönliche Zuwendung der Mitarbeiter und das Angebot, auch "in Erinnerungen zu schwelgen“, den Menschen Kraft verleihen. Im Gespräch entstehen neue Sichtweisen und Erinnerungen. Sie geben den Menschen Halt: Der Großmutter, die aus der Isolation ihres Einfamilienhauses nach dem Tod des Ehepartners, im Pflegeheim neue Stärke durch Gespräche und ungewohnte Erfahrungen sammelt, oder dem Schlaganfallpatienten, der in mühevoller Arbeit Schritt für Schritt wieder sprechen und laufen lernt; sie alle treten einer neuen Erinnerungsgemeinschaft bei - es beginnt ein neues Leben.
Und das ist die eigentliche Ironie von Erinnerungen: Sie sagen etwas darüber, wer wir sind und wo wir herkommen. Sie wollen von uns festgehalten und gebannt werden. Aber sie weisen uns nicht den Weg, wohin wir in unserem Leben gehen. Für diese Erinnerung bleibt nur der Maßstab, den Mark Twain einmal sinngemäß so formulierte: Wir sollten ein Leben leben, dass selbst der Bestatter traurig ist, wenn man geht.
|