Die persönlichen Erinnerungen an meine Kindheit und meine Jugend unterscheiden sich von denen meiner Eltern. Als Kind habe ich die Schwierigkeiten und Herausforderungen, vor denen meine Eltern nach ihrer Flucht nach Deutschland standen, nicht bewusst wahrgenommen und konnte sie in dem frühen Alter auch nicht verstehen. Jedoch habe ich durch zahlreiche Gespräche die Beweggründe meiner Eltern nachvollziehen können. Auch die Erzählungen meiner Großeltern, die die Schrecken des Zweiten Weltkriegs miterlebten, wurden zu einem wichtigen Teil meiner eigener Erinnerungen.
Die Gesamtheit aller Erinnerungen und der daraus gezogenen Lehren machen den Erfahrungsschatz eines Menschen aus. Nur jemand, der sich seiner Vergangenheit erinnert, hat einen Blick für die eigene Gegenwart und kann seine Zukunft gestalten. Dabei spielen nicht nur persönliche Erinnerungen eine Rolle, sondern auch kollektive Erinnerungen von Familie, Generation und Nation. Sie alle befinden sich auf unterschiedlichen Ebenen, sind jedoch eng miteinander verflochten und prägen die Persönlichkeit eines Menschen. Die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, die schreckliche Tragödie der Shoa, das Leben unter einem kommunistischen Regime sind nicht die Erinnerungen meiner Generation. Es sind jedoch Erinnerungen unserer Vorfahren, die wir als Jugend stets gut im Gedächtnis behalten und an nachfolgende Generationen weitergeben müssen. Es ist wichtig, dass auch Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, deren Ur- und Großeltern keine Verantwortung für die von Deutschland verursachten Leiden tragen, an den Erinnerungen partizipieren. Die daraus gezogenen Erfahrungen und Lehren müssen alle in Deutschland lebenden Menschen teilen.
Unterschiedliche Erinnerungen an gleiche Ereignisse sind das Ergebnis unterschiedlicher Perspektiven. Der ehemalige SED-Kader hängt aus verständlichen Gründen immer noch dem „real existierenden Sozialismus“ nach. Es wird versucht, die eigenen, verblendeten Erinnerungen mit dem realen Bild des verbrecherischen Regimes zu vermischen und dieses zu verklären. Auch die Erinnerungen, der in der DDR aufgewachsenen Menschen, deren Erwartungen an den demokratischen Wandel nicht ganz erfüllt wurden, werden dazu missbraucht. Das Motto „Es war nicht alles schlecht“ kaschiert die Verbrechen mit Nostalgie und vermischt die tragische Erinnerung an die politische Unterdrückung mit persönlichen, glücklichen Erinnerungen an die eigene Jugend. Das darf nicht dazu führen, dass Verbrechen und Ungerechtigkeit, die den Menschen unter einem Regime widerfahren sind, in Vergessenheit geraten oder verklärt werden. Es ist die Aufgabe unserer Generation dafür zu sorgen, dass niemand und nichts vergessen wird.
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