Portrait Serap Güler

Wenn Menschen uns auf ewig verlassen, ist es oft die Erinnerung an sie, die uns Trost gibt und unseren Schmerz erträglich macht. Wir schmunzeln vor uns hin, wenn wir uns an bestimmte Augenblicke mit ihnen oder an gewisse Eigenschaften von ihnen erinnern. Meist sind es banale Dinge, banal aber hilfreich.  Was aber, wenn wir das Erinnern vergessen? Wenn wir erst uns nahestehende Menschen vergessen und anschließend nicht mehr wissen, wer wir selbst sind? 

 

Ich habe dies bei meiner Großmutter erlebt. Am Anfang war es noch lustig für uns. Sie brachte Namen ihrer Enkelkinder oder Kinder durcheinander oder gab uns Namen, die wir nicht zuordnen konnten, die aber für sie eine Bedeutung hatten. Als ihre Demenz fortschritt, erkannten wir den Ernst der Lage und waren in Sorge. Zuerst vor allem, weil sie sich nicht mehr an uns erinnerte. Wir wurden zu Fremden für sie. Wir wurden vergessen, was uns anfangs mehr schmerzte als ihre Krankheit.

 

Ich erinnere mich an den Tag, als sie meine Mutter fragte, wer sie sei und was sie von ihr wolle. Als meine Mutter ihr antwortete, sie sei ihre Tochter, schaute meine Großmutter sie unbeeindruckt an und sagte: „Das kann nicht sein, ich habe keine Tochter.“ Den Schmerz, den meine Mutter bei diesem Satz empfand, sah man ihr deutlich an. In diesem Moment war es aber vor allem ein Schmerz des Vergessenwerdens. Erst später, in den letzten Jahren meiner Großmutter, ging es nicht mehr um uns. Erst dann ging es nur noch um sie, und wir waren schon froh, wenn sie überhaupt noch reagierte. Dass sie sich an uns erinnerte, erwarteten wir dann nicht mehr.

 

Meine Erinnerungen an meine Großmutter, die trotz allem wunderbar sind, sind deshalb auch immer mit einem schlechten Gewissen verbunden. Sicherlich, es ist menschliche Eitelkeit, mehr Angst davor zu haben, vergessen-zu-werden als zu vergessen. Aber eben diese Eitelkeit hindert uns daran, uns in die Lage desjenigen zu versetzen, der vergisst. Eine Erfahrung, die ich hoffentlich nie vergessen werde.     


Serap Güler

Gedanken zum Thema