Erinnerung kann wie Erfahrung persönlich sein – oder kollektiv. Und beides kann zugleich eine historische Dimension haben. Die Frage, ob und wie historische Erinnerung und Erfahrung dem Politiker helfen kann, besser zu entscheiden und klüger zu handeln, beschäftigt mich immer wieder. Etwas Grundsätzliches dazu hat der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt im vorletzten Jahrhundert gesagt: Man werde durch historische Erfahrung „nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer)“. Man gewinnt aus der Geschichte keine Handlungs-anleitung für eine konkrete Situation, aber doch hilfreiche Elemente von so etwas wie „Landkarten“ des Handlungsfeldes, in dem man sich jeweils befindet, und auch eine Sensibilität für höchst lebendige Vergangenheiten in den Konstellationen der Gegenwart.
So sollten wir historische Prägungen und Erfahrungen von Nationen in Rechnung stellen, die sie so handeln und empfinden lassen, wie sie heute handeln und empfinden. Gründe können wir finden, warum in der Vergangenheit etwas falsch gelaufen ist – und dann versuchen, die Fehler nicht noch einmal zu machen, zum Beispiel Konsequenzen zu ziehen für bessere politische Rahmenbedingungen, wie bei der Regulierung der Finanzmärkte nach jahrelanger Deregulierung und Lehman-Kollaps. Wir können uns von unerwünschten Entwicklungen warnen lassen, die einmal aus bestimmten, vielleicht mit heutigen vergleichbaren Konstellationen folgten. Wir können aufmerksam werden für die vielfältigen, auch unbeabsichtigten, völlig unerwarteten Folgen von Handlungsentscheidungen.
In der Menschheitsgeschichte treffen wir immer wieder auf vergleichbare Problemlagen und Konstellationen: von Klimaveränderungen über den Zerfall von Imperien bis zu Finanzkrisen und Staatspleiten. Und vergleichbare Konstellationen führen zu vergleichbarem Handeln. Der Mensch verändert sich zwar in der Geschichte. Aber es gibt politische Verhaltensmuster, die immer wiederkehren: etwa der Wunsch nach Anerkennung des eigenen Großmachtstatus, die Empfindlichkeit gegen tatsächliche oder vermeintliche Demütigungen und gegen Bedeutungs-verlust. Wir sollten nicht so sehr in Zäsuren denken, sondern vielmehr in Konjunkturen. Das ganz Neue gibt es selten. Mehr historische Erinnerung, die Betrachtung der „longue durée“, kann der Politik nur guttun. Nicht klug für ein andermal, aber weise für immer!
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